Betriebsverlängerung französischer Kernkraftwerke - Baureihe 900 MW
Generische Sicherheitsaspekte bei Laufzeitverlängerungen französischer Reaktoren der 900 MW-Baureihe
Die Laufzeiten von Kernkraftwerken (KKW) sind in Frankreich gesetzlich nicht begrenzt. Jedoch finden alle 10 Jahre periodische Sicherheitsüberprüfungen (Visite Décennale) statt.
Kurzgutachten ASN-Bescheid 900 MW Reaktoren
Die Betriebsbewilligung der französischen KKW ist unbegrenzt, es muss jedoch alle zehn Jahre eine Periodische Sicherheitsüberprüfung (PSÜ) durchgeführt werden, um den Weiterbetrieb zu ermöglichen. Die nun durchgeführte vierte PSÜ ist von besonderer Wichtigkeit, da das ursprüngliche Design der Reaktoren nur auf eine Laufzeit von 40 Jahren ausgelegt ist.
Mit dem am 23.02.2021 vorgelegten Beschluss der französischen Nuklearaufsichtsbehörde ASN wurde die generische Phase beendet.
Nach Veröffentlichung des ASN-Beschlusses wurde dieser einer Analyse in Hinblick auf vormalig erstellten österreichischen Fachstellungnahmen erstellt, wobei auch ein Ausblick auf weitere Handlungsoptionen gegeben wird.
Die folgenden technischen Themen sollten mit der französischen Seite besprochen werden:
Unfälle ohne Kernschmelze:
• Viele der im ASN-Beschluss angeführten Änderungen werden erst durch weitere Studien untermauert werden müssen, deren Ergebnisse von ASN in weiterer Folge noch abgenommen werden sollten. Somit liegt zum Ende der 4. PSÜ der insgesamt erforderliche Nachrüstumfang nicht konkret verifiziert vor.
Unfälle mit Kernschmelze
• Fortschritt und gegebenenfalls Verzögerung bei der Implementierung der Maßnahmen zur Verhinderung des Durchschmelzens der Fundamente und Verstärkung der seitlichen Wände. Darstellung der möglichen Maßnahmen zur Verstärkung des Fundaments der Reaktorgebäude aus sehr kieselhaltigem Beton, die entsprechenden Studienergebnisse und die daraus insgesamt tatsächlich resultierenden Maßnahmen. Die Entscheidung sollte transparent begründet werden.
• Fortschritt und gegebenenfalls Verschiebungen bei der Implementierung des Systems zur Ableitung der Restwärme aus dem Sicherheitsbehälter ohne Entlüftung.
• Fortschritt und gegebenenfalls Verschiebung bei der seismischen Verstärkung der Vorrichtung der Entlüftung und Filterung des Sicherheitsbehälters
Erdbeben
• Überprüfung der standortspezifischen Erdbebengefährdung und anderer externer Gefährdungen auf Grundlage neu erhobener Daten und aktueller Methoden.
• Überprüfung der Auslegungsgrundlage der Reaktoren in Bezug auf Erdbeben und anderer Einwirkungen von außen.
Lagerung abgebrannter Brennelemente
• Fortschritt und gegebenenfalls Verzögerungen bei der Implementierung eines zusätzlichen Kühlsystems des Brennelementlagerbeckens und des Notwassersystems als Teil des Hardened Safety Core.
• Diskussion einer bereits erfolgten oder noch zu erfolgenden Prüfung der Möglichkeit einer Verstärkung der Struktur des Brennelementlagergebäudes.
relevante Unterlagen
Öffentlichkeitsbeteiligung 3. Dezember 2020 - 22. Jänner 2021
Die französische atomrechtliche Aufsichtsbehörde ASN (Autorité de Sûreté Nucléaire) führte zwischen 3. Dezember 2020 und 22. Jänner 2021 eine Öffentlichkeitsbeteiligung zu ihrem Entscheidungsentwurf für die generisch erforderlichen Sicherheitsanforderungen bezüglich des weiteren Betriebs der 900 MW-Baureihe der französischen Atomkraftwerke (32 KKW-Blöcke) über die im Rahmen der Auslegung unterstellte Betriebsdauer von 40 Jahren hinaus durch.
ANMERKUNG: Die obig angegebene Frist wurde - durch Email von der ASN am 14.1.2021 bestätigt - um eine Woche, somit vom 15.Jänner auf den 22.Jänner, verlängert.
Einen Teil der Informationen, insbesondere eine Zusammenfassung ihrer Stellungnahme, stellt ASN auf einer unten verlinkten Internetseite auch in englischer Sprache zur Verfügung.
Auf der entsprechenden Webseite besteht die Möglichkeit zur Abgabe von Stellungnahmen durch die potentiell betroffene Öffentlichkeit.
Im Auftrag des Bundesministeriums für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie wurde eine Fachstellungnahme erarbeitet werden.
weiterführende Informationen:
Fachstellungnahme (Jänner 2021)
Ein Expertenteam unter der Leitung des Umweltbundesamtes hat für das Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie eine Fachstellungnahme zum französischen Konsultationsprozess bezüglich die generischen Anforderungen an die Betriebsverlängerung der französischen 900 MW-Kernkraftwerke erarbeitet.
Die Experten kommen zu folgenden Schlussfolgerungen:
Analyse der wichtigsten sicherheitsrelevanten Aspekte – Unfälle ohne Kernschmelze
• Bestehende grundlegende Defizite bei den 900-MW-Reaktoren gegenüber den von ASN angegebenen Anforderungen an die Sicherheit als Voraussetzung für einen Betrieb über die ursprüngliche Laufzeit von 40 Jahren hinaus bleiben weiterhin bestehen.
• Angesichts der festgestellten Defizite bei der zentral wichtigen Beherrschung von Ereignissen auf der Sicherheitsebene 3 besteht gegenüber dem EPR, einem Reaktortyp der 3. Generation, der gerade in Flamanville im Bau ist, ein deutlich erhöhtes Risiko dafür, dass es zu auslegungsüberschreitenden Ereignissen der Sicherheitsebene 4 mit der Konsequenz einer Gefährdung der Rückhaltung radioaktiver Stoffe kommen kann.
• Es ist jedoch anzumerken, dass viele der im ASN-Bescheidentwurf angeführten Änderungen erst durch weitere Studien untermauert werden müssen, deren Ergebnisse von ASN in weiterer Folge noch abgenommen werden müssen. Somit ist zum Ende der generischen Phase der 4. PSÜ der volle Umfang der erforderlichen Nachrüsten nicht bekannt..
Analyse der wichtigsten sicherheitsrelevanten Aspekte – Unfälle mit Kernschmelze
• Die Überprüfung durch die Nuklearaufsichtsbehörde ASN im Bereich Kernschmelzunfälle zeigt eine Reihe von Defiziten in den von EDF bislang vorgelegten Konzepten. ASN fordert nun die Umsetzung von signifikanten Verbesserungen der Konzepte.
• Das von EDF vorgeschlagene Konzept zur Verhinderung des Durchschmelzens des Fundaments kann noch nicht als effektiv bezeichnet werden. Bei der Hälfte der KKW ist ein Durchschmelzen der (sehr kieselhaltigen) Fundamente zu erwarten. Eine Entscheidung zu der erforderlichen Verstärkung der entsprechenden Fundamente ist noch nicht getroffen. Ob die erst in einigen Jahren zwischen ASN und EDF zu vereinbarenden Maßnahmen ausreichend sind, kann derzeit noch nicht bewertet werden.
• Insgesamt ist das gesetzte Ziel der Begrenzung der radiologischen Auswirkungen während eines schweren Unfalls nicht erreicht.
Lagerung der abgebrannten Brennelemente
• ASN fordert umfangreiche Nachreichungen, schränkt aber hinsichtlich der erforderlichen Nachrüstungen bereits ein, dass diese „verhältnismäßig“ sein müssen. Das dann schlussendlich erreichte Sicherheitsniveau kann daher noch nicht bewertet werden.
• Um langfristig die Freisetzung aus dem SFP im Falle eines schweren Unfalls zu vermeiden, ist das Erreichen eines sicheren Zustands ohne Sieden des Wassers erforderlich. Ob dieser Zustand für alle Unfallszenarien erreicht werden kann, muss EDF noch nachweisen.
Öffentlichkeitsbeteiligung 2019
Die französischen Reaktoren der 900MW Baureihe werden in den nächsten Jahren sukzessive ihre Auslegungslaufzeit von 40 Jahren erreichen. Durch eine vierte periodische Sicherheitsüberprüfung (VD4) können Laufzeiten über 40 Jahre hinaus erreicht werden. Für diese Reaktoren – mit Ausnahme der beiden ältesten Reaktoren Fessenheim-1 und Fessenheim-2 – werden in Frankreich derzeit generisch für die ganze Baureihe relevante Sicherheitsaspekte der VD4 betrachtet.
Um der Öffentlichkeit eine Beteiligung auch schon in der generischen Phase der VD4 für die 900 MW-Reaktoren zu ermöglichen, führt das Haut Comité pour la transparence et l’information sur la sécurité nucléaire (HCTISN) derzeit in Frankreich ein eigenständiges freiwilliges Verfahren, genannt Concertation, durch.
Zuständig für die Bewertung der kerntechnischen Sicherheit der französischen KKW ist ausschließlich die französische Atomaufsichtsbehörde ASN (Autorité de sûreté nucléaire). Die ASN beabsichtigt die Erstellung und Veröffentlichung einer generischen Anforderungsliste an die Reaktoren, welche die Bewilligung zur Laufzeitverlängerung erhalten sollen. Diese Anforderungsliste wird – entsprechend der französischen Rechtslage – einem öffentlichen Begutachtungsverfahren unterzogen werden.
Ein Expertenteam unter der Leitung des Umweltbundesamtes hat für das Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus eine Fachstellungnahme zum französischen Konsultationsprozess der HCTISN bezüglich die generischen Anforderungen an die Betriebsverlängerung der französischen 900 MW-Kernkraftwerke erarbeitet.
Die Betroffenheit Österreichs ergibt sich daraus, dass auch für die französischen 900 MW Kernreaktoren schwere Unfälle mit bedeutenden Freisetzungen an radioaktiven Stoffen nicht ausgeschlossen werden können und in einem solchen Fall Interventionsmaßnahmen in Österreich erforderlich werden können.
Die Experten sind der Auffassung, dass die folgenden Bedingungen als Voraussetzung für eine Laufzeitverlängerung eines 900 MW AKW der französischen CP0 und CPY Generationen erfüllt sein müssen:
Nachweis der Einhaltung der erforderlichen Sicherheitsreserven über die beabsichtigte Lebensdauerverlängerung insbesondere für die Komponenten, die nur für eine Laufzeit von 40 Jahren ausgelegt sind (ohne Zuhilfenahme probabilistischer Analyseergebnisse).
Alle zur Erreichung der sicherheitstechnischen Zielsetzung – Anpassung an die Sicherheitsmerkmale des EPR – als erforderlich angesehenen Nachrüstungen sind vor Wiederinbetriebnahme nach der 4. Sicherheitsüberprüfung durchzuführen.
Aufbau eines vollständigen Ebene 4 Konzepts
Vollständige Installation des „Hard Core“ als System der Sicherheitsebene 4a (Notstandssystem).
Nachweis der Beherrschung der beim EPR als RRC-A (Risk Reduction Categorie A) klassifizieren Anlagenzustände (ohne ausschließliche Berücksichtigung der Ergebnisse aus den PSA-Untersuchungen).
Maßnahmen und Einrichtungen des anlageninternen Notfallschutzes sollen auch bei extremen externen Einwirkungen verfügbar sein. Dabei ist deren Verfügbarkeit über einen längeren Zeitraum von Bedeutung.
Ausschluss von cliff-edge Situationen für den Fall extremer Einwirkungen.
Nachweis der beim EPR als RRC-B (Risk Reduction Categorie B) klassifizieren Kernschmelzphänomene hinsichtlich einer Begrenzung der Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Umgebung – Sicherheitsebene 4b (ohne ausschließliche Berücksichtigung der Ergebnisse aus den PSA-Untersuchungen).
Für die 900-MW-Reaktoren ist heute ein Kernschmelzunfall mit einer großen Freisetzung möglich und wird auch nach der Umsetzung des derzeit geplanten PLE-Programms möglich sein.
Im Zuge der EU-Stress Tests wurden zahlreiche Schwachstellen bezüglich der 900 MW-Reaktorflotte offensichtlich. Viele vorgeschriebene Nachrüstmaßnahmen wurden bislang noch nicht abgeschlossen.
Die bedeutendste Schwachstelle stellt die Verwundbarkeit der Brennelementlagerbecken dar, welche nur durch relativ dünn ausgeführte Wände geschützt sind. Diese Gefährdungslage würde weitere 20 Jahre bestehen, zumal Maßnahmen zur Behebung dieser Schwachstelle derzeit nicht vorgesehen sind. Das Programm zur Betriebsverlängerung wird daher nicht das selbstgesteckte Sicherheitsziel erreichen können, da hier die Anforderungen, wie sie für den EPR bestehen, insbesondere Schutz der Brennelementlagerbecken gegen einen Flugzeugabsturz, nicht erreicht werden wird können.
Ein extern induzierter schwerer Unfall in einem Brennelementlagerbecken der 900 MW-Reaktoren kann so zu einem Kühlmittelverlust führen. Ausreichende Maßnahmen zur Sicherstellung der notwendigen dauerhaften Wasserbedeckung sind derzeit nicht verfügbar.
Fachstellungnahme VD4 900 MW März 2019